Unfälle Rems-Murr: Leben Radler immer gefährlicher? Sind die Autofahrer schuld?
Das Rad – nebst Pedelec und E-Bike – ist als Verkehrsmittel schwungvoll auf dem Vormarsch. Aber wie sicher sind Radler im Straßenverkehr?
Das Rad – nebst Pedelec und E-Bike – ist als Verkehrsmittel schwungvoll auf dem Vormarsch. Aber wie sicher sind Radler im Straßenverkehr? Zuletzt kam es zu einigen schweren Unfällen. Ein Muster zeichnet sich ab: Seniorinnen und Senioren auf Elektrofahrrädern leben besonders gefährlich.
Beispiele: Rad-Unfälle im Rems-Murr-Kreis und in Nachbar-Gebieten
Anfang April starb eine 35-jährige Radfahrerin auf der Kreisstraße zwischen Erbstetten und Nellmersbach. Ein Auto erfasste sie beim Queren der Straße. Büsche, Bäume und ein Baustellen-Fahrzeug machten die Unfall-Kreuzung unübersichtlich. Der Autofahrer habe, sagte die Polizei, „kaum Zeit zu bremsen oder zu reagieren“ gehabt.
Anfang Mai in Leinfelden wollte ein Autofahrer in eine Straße abbiegen und hielt an der Einmündung so an, dass er fast vollständig auf dem dortigen Radweg stand. Als er wieder anfuhr, rammte er einen auf dem Radweg nahenden 16-Jährigen.
Anfang Juni verlor in Rechberghausen (Kreis Göppingen) ein 79-Jähriger die Kontrolle über sein Pedelec, stürzte mit dem Kopf voraus und erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Ende Mai kam ein Pedelec-Fahrer, 70, in Öhningen (Landkreis Konstanz) auf einem leicht abschüssigen Wanderweg zu Fall und starb.
Anfang Juni fiel eine 52-Jährige in Oeffingen betrunken vom Pedelec. Folge: schwere Verletzungen im Gesicht. Mit über 3,6 Promille unterwegs war ein 35-jähriger Radler, der in Backnang verunglückte.
Unfallzahlen steigen: Statistiken zu Fahrrädern und E-Bikes
Die Aufzählung offenbart: Jeder Fall birgt Besonderheiten. Zunächst aber ein Blick in die Statistik.
- 642 Unfälle mit normalen Fahrrädern gab es 2022 im Bereich des Polizeipräsidiums Aalen, zu dem der Rems-Murr-Kreis gehört. Im Vorjahr waren es nur 514 gewesen. Das ergibt einen Anstieg um rund 25 Prozent. 114 Menschen wurden schwer, 427 leicht verletzt.
- Noch drastischer stieg die Zahl der E-Bike-Unfälle: von 222 auf 320, um 44 Prozent. Drei Menschen starben, 71 wurden schwer, 226 leicht verletzt.
Woran liegt das? Die Suche nach Erklärungen beginnt bei einem simplen Sachverhalt:
- In Deutschland gab es 2022 etwa 83 Millionen normaler Fahrräder – fünf Jahre zuvor waren es etwa zehn Millionen weniger gewesen.
- Noch viel krasser ist die Entwicklung bei Elektro-Fahrrädern: Der deutsche Bestand an E-Bikes lag 2022 bei 9,8 Millionen – nur drei Jahre vorher waren es noch lediglich 5,9 Millionen gewesen. (Hier ein schönes Beispiel für einen engagierten E-Radler.)
Erster Befund: Es gibt mehr Radunfälle, weil es mehr Radler gibt.
Aktuellste Entwicklung: Unfallzahlen teils sogar rückläufig
Nicht jede Tendenz indes lässt sich einfach fortschreiben – Polizeisprecher Holger Bienert teilt mit: Die Unfälle mit normalen Fahrrädern seien im Bereich des Polizeipräsidiums Aalen von Januar bis April 2023, verglichen mit dem Vorjahreszeitraum, um 25 Prozent gesunken! Allerdings: Unfälle mit Pedelecs haben 2023 bislang, gemessen am Vorjahresbeginn, um weitere 26 Prozent zugelegt.
Erfreulich: Betrachtet man nur den Rems-Murr-Kreis, sanken 2023 sowohl die Zahlen der Fahrradunfälle (um 20 Prozent) als auch die der Pedelecunfälle (um 14 Prozent). Momentaufnahme oder Trendumkehr? Momentan noch unklar. Aber schreiten wir fort bei der Ursachenforschung.
Sind die Autofahrer schuld? Im Großen und Ganzen eher nein
Gibt es neuralgische Punkte? „Konkrete Unfallhäufungsstellen in Bezug auf Radfahrende“ seien derzeit im Rems-Murr-Kreis nicht erkennbar, sagt Bienert. Allgemein gelte: „Die Unfallgefahr ist innerhalb der stark frequentierten Bereiche der Großen Kreisstädte größer.“
Sind die Autofahrer schuld? So einfach ist es nicht. Zwar sei „festzustellen, dass Radfahrer gerade bei Abbiege- beziehungsweise Einbiegevorgängen, oftmals auch an Kreisverkehren, übersehen werden“.
Aber vor allem bei Unfällen außerhalb der Ortschaften hätten oft Radfahrende „aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit oder falscher Einschätzung des Straßenverlaufs die Kontrolle über ihr Gefährt“ verloren. Deutlich mehr als die Hälfte aller Unfälle verursachen die Radelnden selber.
Tücken des E-Bikes: Warum ältere Menschen gefährdet sind
Bei E-Bikes und Pedelecs gibt es einen eindeutigen Befund: Laut Statistischem Bundesamt war 2021 ein Drittel der Verunglückten im Rentenalter. Zeitungsfrage an Holger Bienert: „Mir scheint, dass bisweilen radelnde Seniorinnen und Senioren mit den doch relativ hohen Geschwindigkeiten ihrer Pedelecs/E-Bikes überfordert sein könnten“ – trügt der Eindruck?
Antwort des Polizeisprechers: Radelnde Ältere selber „bestätigen das oft in persönlichen Gesprächen mit uns“. Er zählt mehrere Faktoren auf:
- Pedelecs „sind nicht nur schneller, sondern auch schwerer und haben durch die Scheibenbremsen ein wesentlich direkteres Bremsverhalten als herkömmliche Räder“.
- Oft steigen ältere Leute, die lange Zeit nur mit dem Auto oder zu Fuß unterwegs waren, „nach vielen Jahren wieder aufs Rad um, da mit der Antriebsunterstützung eine deutlich geringere körperliche Anstrengung erforderlich ist. Selbst längere Touren sind sofort wieder möglich.“
- Aber auch wenn es heiße, dass man „das Radfahren nicht verlernt“ – die „Handhabung von Pedelecs im Fahrverhalten“ sei „deutlich anspruchsvoller. Der Umgang damit sollte geübt werden, auch weil häufig die eigene körperliche Leistungsfähigkeit zum Beispiel beim Reagieren im Alter abnimmt.“
Wenn radelnde Senioren „verunfallen, sind die Folgen in der Regel gravierender als bei anderen Bevölkerungsgruppen. Ältere Radfahrer verletzen sich oft schwerer.“
- Der Anteil von Menschen über 64 betrug „bei Pedelecunfällen mit Verletzten über 31 Prozent, obwohl ihr Gesamtbevölkerungsanteil nur rund 21 Prozent beträgt.“
- „Bei Schwerverletzten lag die Quote sogar bei fast 41 Prozent.“
Wichtiger Schlusssatz: Nur etwas mehr als die Hälfte der verunglückten Rad- und E-Bike-Fahrer trug einen Helm.